„Wir benutzen keine Metaphern“ – Berichtvorstellung der Zivilen Beobachtungsmission über Auswirkungen des Projektes „Tren Maya“

Quelle: https://deinebahn.com/2025/11/30/wir-benutzen-keine-metaphern-berichtvorstellung-der-zivilen-beobachtungsmission-ueber-auswirkungen-des-projektes-tren-maya/

Basisorganisationen, NGOs und Wissenschaftler*innen stellten im Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez A.C. in Mexiko-Stadt am 25. November 2025 den Bericht der Zivilen Beobachtungsmission über die Auswirkungen des Projektes „Tren Maya“ vor. Erneut belegen sie Ethnozid und Ökozid auf der Yucatán-Halbinsel.

Recherche AG

20 Millionen Bäume weniger. Die Zahl eröffnet am Morgen die Vorstellung des Informes der “Misión Civil de Observación sobre Impactos y afectaciones del proyecto Tren Maya“. Guillermo D’Christy vom Kollektiv „Cenotes Urbanos“ deutet damit nur an, welches Ausmaß die Umweltzerstörung im betroffenen Territorium ein Jahr nach der Einweihung des umstrittenen Megaprojekts „Tren Maya“ angenommen hat: Die Zivile Beobachtungsmission beschränkte sich auf drei der sieben Streckenabschnitte des Zuges (5, 6 und 7, in den Bundesstaaten Campeche und Quintana Roo). 20 Millionen entwurzelte Bäume und mindestens 130 (mit 15.000 Betonpfeilern durchlöcherte) zerstörte Cenoten (einzigartige Höhlensysteme, die in kilometerlangen unterirdischen Seen und Flüssen das Wasser der Region speichern und nährstoffreich in die Mangroven- und Korallenwelten der Küste transportieren) belegen einen Ökozid, der weit über die untersuchte Geographie hinausgeht: Das „Gigaprojekt“ der territorialen Neuordnung Südmexikos besteht aus den verbundenen Korridoren „Tren Maya“ und „Interozeanischer Korridor im Isthmus von Tehuantepec“, dessen Funktion wiederum in der Vernetzung einer ganzen Reihe weiterer Megaprojekten besteht (Energie- und Industrieparks, Monokulturen, Massentierhaltungsanlagen oder Immobilien- und Tourismusprojekte). Sie stehen für die Kontinuität eines kapitalistisch-kolonialen Krieges gegen die letzten Nischen aus Biodiversität und traditioneller Lebensweise, die von indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinschaften verteidigt werden. Auch dieser Krieg lässt sich beziffern: „In den letzten 60 Jahren hat Mexiko 90 Prozent seines ursprünglichen tropischen Regenwaldes verloren“, ordnet D’Christy ein. Zuletzt stieg diese Zahl weiter an: 2024 verlor Mexiko 90 Prozent mehr Regenwald als im Vorjahr und rückt damit in der Liste der Länder mit dem größten Verlust auf Platz 10. Im Südosten des Landes kann der Anstieg des Waldverlusts zu diesem Zeitpunkt nicht mehr allein durch die Rodungen für die 60 Meter breite Zugschneise erklärt werden. Vielmehr bestätigt sich die seit Jahren von Gemeinden und Umweltschützer*innen wiederholte Warnung, dass der „Tren Maya“ die Abholzung vor allem durch das vorantreibt, was ihm folgt – von Militärhotels im „Biosphärenreservat“ Calakmul, über den neuen internationalen Flughafen „Felipe Carrillo Puerto“ und den ausgebauten Hafen „Progreso“ bis zu Immobilienanlagen (das Paradies steht nun zerstört in quadratischen Parzellen auf dem Markt zum Verkauf) und Energieprojekten, darunter neue Gaspipelines im Bau oder „grüne“ Ammoniak-Produktion unter deutscher Beteiligung in der Planungsphase.

Wir werden erst in den nächsten Jahren wissen, wie groß und irreversibel die Schäden an der Umwelt wirklich sein werden“, beendet die Stimme von „Cenotes Urbanos“ den ersten Beitrag der Konferenz, zu der neben Umweltschutz- (Cenotes Urbanos; Greenpeace; TERRAVIDA) und Menschenrechtsorganisationen (Consejo Civil Mexicano para la Silvicultura Sostenible; KANAN Derechos Humanos; Centro de Derechos Humanos Fray Bartolome de Las Casas) auch das „Observatorium der Multinationalen Konzerne in Lateinamerika (OMAL)“ sowie das „Lateinamerikanische Observatorium für Geopolitik“ eingeladen hatten. Neben dem „Internationalen Tribunal für die Rechte der Natur“ sind es jedoch vor allem indigene Basisorganisationen, die als Teil der Zivilen Beobachtungsmission Zeugnis ablegen über die Auswirkungen der Megaprojekte auf ihr Territorium und ihre Lebensweise. Dazu gehört das Gemeindezentrum „U kúuchil k Ch’i’ibalo’on“ in Felipe Carrillo Puerto (Noj Kaaj Santa Cruz) und der Regionale Indigene und Populäre Rat von Xpujil (CRIPX).

Die Perspektive der Gemeinden wird an diesem Tag von Maria E. Hernández vertreten, die im Ejido Don Samuel bei Escárcega im Bundesstaat Campeche lebt und als Teil des „Colectivo Vida“ von der doppelten Spaltung der Dorfgemeinschaften berichtet: Falsche Versprechen, Bedrohungen und Bestechungen führen zu einem „Riss im kollektiven Gewebe“, während der Zug die Dörfer auch wörtlich „zerschneidet“: „Heute führt er oft mitten durch die Gemeinden, durchtrennt alte Wege und verhindert den Übertritt auf die andere Seite“. Viele Menschen würden so unter der Schieneninfrastruktur leiden, ohne zu profitieren: Bahnstationen gibt es in den kleineren Gemeinden oft nicht, Mobilitätsmöglichkeiten werden eingeschränkt statt ausgebaut. Was hingegen zunimmt, macht Maria Angst: Sie berichtet von Preissteigerungen bei gleichbleibend niedrigem Lohn in den vom „Tren“ durchquerten Landstrichen, steigender Militarisierung („Tren Maya“ und „Interozeanischer Korridor“ werden von den mexikanischen Streitkräften gebaut und verwaltet) und explosionsartig expandierender Gewalt – durch Armee und Organisierte Kriminalität, die in der „territorialen Neuordnung Südmexikos“ die Möglichkeit zum Erschließen neuer Märkte wittert.

Giovanna Gasparello vom „Nationalen Institut für Anthropologie und Geschichte (INAH)“ greift in diesem Kontext den Zynismus des aktuellen Diskurskrieges auf, den Regierung, Unternehmen und Militär führen: Das staatliche Armeeunternehmen zur Administration militarisierter Hotels in Schutzgebieten und dem kapitalistischen Ausbau heiliger Maya-Pfade im Reservat Siaan Kaan (Quintana Roo) wurde „Gruppe Mundo Maya (Gruppe Maya Welt)“ getauft, während „einst öffentliche Räume nun von den Streitkräften verwaltet werden und so ihren öffentlichen Charakter verlieren, sie nehmen einen Charakter der Angst an.“ – Privatisierte Strände und Regenwälder im Namen der „Nationalen Sicherheit“. Als Mitglied des INAH spricht Gasparello in der anschließenden Fragerunde von Verrat an und durch die Institution, die sich eigentlich dem Schutz des archäologischen Erbes des Landes widmen müsse: „Das Projekt wurde uns als Möglichkeit verkauft, die Stätten und Artefakte der Maya zu entdecken und zu bewahren. In Wirklichkeit werden sie durch die Bauarbeiten zerstört, landen auf dem Schwarzmarkt und verschwinden. Wir als Institution legitimieren dies indirekt…“

Dass die Vernichtung des biokulturellen Reichtums im Zuge des „Tren Maya“ so schnell voranschreitet erklärt Viridiana Maldonado von „TERRAVIDA“ durch das völlige Versagen des Justizsystems: „Bis 2023 wurden 60 amparos [einstweilige Verfügungen] gegen den Tren Maya eingereicht, 2025 sind nur noch 8 amparos aktuell. Alle Streckenabschnitte des Tren Maya wurden zwischenzeitlich durch Gerichte suspendiert, doch an allen wurde weiter gebaut.“ Francesco Martone vom „Internationalen Tribunal der Rechte der Natur“ ist per Video zugeschaltet und bestätigt die Verantwortungslosigkeit der mexikanischen Justiz: „Daher wurde nun, während einer Protestkarawane durch Mesoamerika auf dem Weg zur Klimakonferenz im brasilianischen Belém, eine Klage der Gemeinden der Yucatán-Halbinsel vor dem Interamerikanischen Menschenrechtgerichtshof in Costa Rica eingereicht“. Ein Ergebnis bleibt abzuwarten. Die nie in den Süden gelangte Gerechtigkeit würde aber, bekräftigt Maldonado, weiter durch die widerständigen Gemeinden gesucht – „in- und außerhalb der Gerichtssäle“.

Dieselbe Botschaft hat Lázaro Sánchez aus Chiapas im Gepäck, er vertritt das dort ansässige und an der Zivilen Beobachtungsmission beteiligte Menschenrechtszentrum FrayBa: „Heute feiern wir die Freiheit der Fünf Gefangenen von San Juan Cancuc [die maya-tseltales Manuel Sántiz Cruz, Agustín Pérez Domínguez, Juan Velasco Aguilar, Martín Pérez Domínguez und Agustín Pérez Velasco], vor drei Jahren unter fabrizierten Beschuldigungen eingesperrt. Es sind kleine Siege, die Hoffnung schenken.“ – „Die Fünf“ hatten sich vor ihrer Verhaftung gegen das Autobahnprojekt von Palenque nach San Cristóbal de las Casas gewehrt. Zahlreiche indigene Gemeinschaften widersetzen sich den Plänen, die unter dem Titel „Route der Maya-Kulturen“ nicht den Dörfern, sondern den Interessen sich ansiedelnder Großkonzerne (darunter Heineken) und dem Massentourismus dienen. Sánchez aus San Cristóbal erkennt Parallelen zwischen der „Supercarretera“ und dem „Tren Maya“, der seinerseits bis Palenque führt. So seien die Gemeinden nie angemessen über die Infrastrukturmaßnahmen aufgeklärt worden – „In Chilón bestand die Konsultierung in der einfachen Frage: Wer für die Autobahn ist, hebt die Hand“. Eine „Consulta“ der indigenen Bevölkerung sieht jedoch die vorherige Informierung vor: umfassend, in der Sprache der Befragten und ihrer autonomen Organisation angepasst. Wie im Falle des „Tren Maya“ handelt es sich bei der Betonnarbe im lakandonischen Urwald um simulierte Konsultierungen, die allein der Legitimierung des Großprojekts, nicht der Einbeziehung der Bevölkerung dienten. Diese leidet stattdessen auch in Chiapas unter zunehmender Gewalt, die sich in zwanzig neuen Militärbasen seit 2021 manifestiert – alles unter dem „Deckmantel“ der Modernisierung.

Enrique Leff von der „Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM)“ bezeichnet die Zerstörung des mexikanischen Südostens abschließend als Menschheitstragödie mit weltweiten Auswirkungen. Das biokulturelle Erbe der Maya, welches den Kollaps ihrer historischen Blütezeit überlebt hätte, würden nun in einer rasanten Geschwindigkeit verschwinden, die schlechten Regierungen agieren „über das Bewusstsein hinweg“ in einer Epoche des „Capitalozän“, definiert durch technisch-energetische Regime am zivilisatorischen Wendepunkt. Er konstatiert dieses „Ignorieren des Bewusstseins“ in der Tatsache, dass der mexikanische Staat Wissenschaftler*innen wie ihn auf eigene Kosten über Jahrzehnte hinweg ausbildete, um sie heute bei Kritik an den Megaprojekten des Südens und des politischen Projekts der selbsternannten „Vierten Transformation“ als „Pseudo-Umweltschützer“ zu diffamieren (die Antwort des ehemaligen Präsidenten auf den Protestbrief von über 130 Forscher*innen und Experten zum Baubeginn des „Tren Maya“ 2018). Dabei ist die Zivile Beobachtungsmission Ausdruck der wissenschaftlichen Basis der Kritik: „Wir benutzen keine Metaphern. Es handelt sich um einen Ökozid und einen Ethnozid. Das ist ein radikales Urteil, aber eines mit Substanz.“

Die indigenen Verteidiger*innen der Nischen seien die „letzte Bastion im Kampf für die Rechte des Lebens“, doch ihr Kampf, der aus ihrer Erinnerung und Geschichte heraus erwächst, werde im Kollaps verschwiegen. Im Menschenrechtszentrum Prodh, in das inzwischen die Nachmittagssonne scheint, ist das anders. Zum Abschluss werden die Worte von Ángel Sulub des Centro Comunitario U kúuchil k Ch’i’ibalo’on verlesen: „Am 21. November wird der Jahrestag der Gründung von Quintana Roo als föderales Territorium gefeiert, im Jahr 1902, nach einer langen Militärkampagne der Vernichtung gegen die maya-máasewáal. Quintana Roo als föderales Territorium gründet sich auf dem Blut der Maya und Praktiken, die eindeutig dem Genozid zuzuordnen sind. Vergessen wir das nicht. 1933 fand die letzte bewaffnete Schlacht der Maya um ihre Autonomie statt, im Dorf Dzulá, angeführt von Großmüttern und Großvätern, darunter Evaristo Sulúb, mein Ur-Großvater. Der Widerstand geht weiter und wird weitergehen, denn wir sind am Leben als pueblos, die wir sind. Unsere Würde ist wertvoller als ein kapitalistisches Entwicklungsmodell, welches uns den Tod aufzwingt.”

Weitere solche „Stimmen des Territoriums“ präsentiert anschließend das Medienkollektiv Jaltun in der Premiere ihres gleichnamigen Kurzfilms „Voces de territorio“, der während der Zivilen Beobachtungsmission entstand. Die Stimmen fassen Schrecken und Hoffnungen des Tages zusammen: Berichte von verschwundenen und „in Tüten gefundenen Menschen“ in neuen urbanen Zentren der Kriminalität, und Schreie kämpfender Fledermäuse über noch intakten Cenoten im Herzen der einstigen Rebell*innenhauptstadt der Großeltern. Sie fliegen schon einmal vor in Richtung Guatemala, um ihre Geschwister zu warnen. Der Ausbau von „Tren Maya“ und „Interozeanischer Korridor“ ist beschlossen.

Siehe auch: https://deutsch.anf-news.com/weltweit/angekundigter-ausbau-des-tren-maya-und-des-interozeanischen-korridors-47702

Die Mission: Im April 2025, als das Eisenbahnprojekt bereits in Betrieb war, wurde eine Beobachtungsmission gebildet, die eine Reise entlang der Abschnitte 5, 6 und 7 des „Tren Maya“ unternahm. Ziel war die Aufnahme von Aussagen von Menschen, die in diesem Gebiet leben; Basisorganisationen; Forscher*innen, die Feldstudien koordinierten; sowie Wassernutzer*innen; Landwirt*innen und Landbesitzer*innen, auf deren Land die Bahnstrecke gebaut wurde. Darüber hinaus wurden Informationen aus der autonomen Beobachtung der Mission heraus zusammengetragen. Es wurden sogar Gespräche mit Mitarbeiter*innen von Unternehmen geführt, die mit dem Projekt in Verbindung stehen, u.a. Hotels, dem „Jaguar-Park“ und anderen. An allen besuchten Orten wurden Zeugenaussagen gesammelt, das Gelände erkundet, Notizen gemacht, Fotos und Videos aufgenommen. Die zivile Beobachtungsmission setzte sich aus den folgenden Organisationen zusammen, von denen die ersten sechs die Einberufung veranlasst hatten: 1) Koordination des Nationalen Indigenen Kongresses 2) Gemeindezentrum U kúuchil k Ch’i’ibalo’on 3) Regionaler Indigener und Populärer von Xpujil (CRIPX) 4) Cenotes Urbanos 5) Mexikanischer Zivilrat für nachhaltige Forstwirtschaft (CCMSS) 6) Internationales Tribunal für die Rechte der Natur (TIDN) 7) Zentrum für Menschenrechte -Fray Bartolomé de las Casas 8) Greenpeace 9) Jaltun Investigación y Acción Colectiva 10) Kanan Derechos Humanos 11) Lateinamerikanisches Observatorium für Geopolitik (OLAG) 12) Observatorium für Multinationale Unternehmen in Lateinamerika (OMAL) 13) TERRAVIDA. Zu den einberufenden Organisationen gesellten sich die Wissenschaftler*innen Alicia Castellanos (UAM), Carlos Rodríguez (UAM) und Giovanna Gasparello (INAH). Darüber hinaus nahm das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte in Mexiko auf Antrag der Organisationen als Beobachter an der Zivilmission vom 11. bis 12. April 2025 teil.

Die gesamte Vorstellung des Berichts „Misión Civil de Observación sobre Impactos y afectaciones del proyecto Tren Maya (construcción y uso de las vías del tren y desarollos colaterales) en los estados de Quintana Roo y Campeche (tramos 5, 6 y 7)” am 25. November 2025 kann auf dem Youtube-Kanal des CCMSS AC angesehen werden: https://www.youtube.com/watch?v=w3wTSBxiEWU&t=4880s

Der Kurzfilm „Voces del territorio” kann auf der Website von Jaltun angesehen werden: https://jaltun.mx/videoteca/voces-de-territorios/

Ein Kurzvideo der Vorstellung des Berichts auf Deutsch veröffentlichte das Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit: https://www.instagram.com/oekubuero_muc/reel/DRgiNPRD3G-/

Aktuelle Informationen zu den Megaprojekten „Tren Maya“ und „Interozeanischer Korridor“ auf Deutsch und Spanisch: https://deinebahn.com/

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